UNSER MOTTO : Alman Türk Dostluğu - Deutsch Türkische Freundschaft 

BERICHT über den Gegenbesuch türkischer Pfadfinder in Kiel vom 15. August bis 6. September 1996

1. Der Gegenbesuch
Im Rahmen des Kieler Projektes zur Jugendbegegnung "Grenzen überschreiten" fanden im Herbst 1995 und im Frühjahr 1996 zwei Begegnugnungen mit den Toros-Pfadfindern in Mersin / Türkei statt. Um die entstandenen Kontakte zu verbessern und die Begegnungsarbeit als Schwerpunkt gegenüber einem gewöhnlichen Türkeitourismus noch deutlicher als bisher herauszustellen, haben wir die türkische Jugendgruppe aus Mersin / Türkei zu einem Gegenbesuch nach Kiel eingeladen.
Nur dank der ideellen und finanziellen Unterstützung durch unterschiedliche Stellen und die Mitarbeit unterschiedlicher Gruppen und Institutionen konnte es gelingen, den Gegenbesuch durchzuführen, obwohl die finanziellen und bürokratischen Hindernisse (z.B. Visaformalitäten) eine erhebliche Herausforderung für die Organisatoren des Projektes darstellten.
So sind die Toros-Pfadfinder aus Mersin mit 31 Jugendlichen und 3 Betreuern und 2 Betreuerinnen vom 15. August bis zum 6. September für 3 Wochen nach Deutschland gekommen. Da sie gerne zelten wollten, wurde mit großer Unterstützung durch die Christlichen Pfadfinder (VCP) aus Kiel-Pries der Jugendzeltplatz in Falkenstein / Kiel-Friedrichsort für sie vorbereitet. 

2. Das Programm
Die gastgebenden Jugendgruppen aus Kiel und dem Kreis Plön, die an den Begegnungsreisen in die Türkei teilgenommen hatten, boten den Gästen ein umfangreiches und interessantes Programm, das sie mit ihren Betreuern und Betreuerinnen während eines Vorbereitungsseminars im Juni '96 entworfen hatten.
Da die Türken außerhalb der schleswig-holsteinischen Schulferienzeiten kamen, mußte das Programm entsprechend gestaltet werden. Daher gab es in der Regel ein Vormittagsprogramm mit offiziellen Gesprächen, Besichtigungen und Informationen und ein Nachmittags- bzw. Abendprogramm mit Begegnungsaktionen. An den Wochenenden zelteten die türkischen und deutschen Jugendlichen gemeinsam. Auch die Fahrten und das Programm führten sie zusammen durch.
Am 1. Wochenende kamen die Kieler Jugendlichen auf den Zeltplatz, um mit der türkischen Gruppe Ausflüge in die nähere Umgebung zu unternehmen und den Gästen bei der ersten Orientierung zu helfen. Am 2. Wochenende gesellten sich weitere Jugendliche dazu: Schüler und Schülerinnen aus Rostock mit ihrer Vertrauenslehrerin, die im Rahmen eines Schulprojektes im Herbst 1996 in die Türkei reisen wollten, und Pfadfinder aus Sarau / Kreis Plön, die sich am Gesamtprojekt beteiligten und halfen, den Umzug des Zeltlagers nach Sarau zu organisieren. Von dort aus wurde der letzte Teil des Programms mit Jugendlichen aus Kiel und dem Kreis Plön organisiert.
Während der Umzugszeit hatten die meisten türkischen Pfadfinder Gelegenheit, in die Familien der deutschen Gastgeber zu gehen und dort ein Stück Alltag zu erleben.


3. Durchführung
3.1. Landeskunde und Sprachunterricht
Interviews während der Besuche in der Türkei haben ergeben, daß sich die türkischen Jugendlichen unzureichend über Deutschland informiert fühlen. Dabei zeigten sie durchweg kritische Neugier und aufgewecktes Interesse an dem Land, in dem viele Landsleute leben, in das Türken aber nur selten reisen können. Fremdsprachenkenntnisse sind kaum vorhanden, aber auch hier ist der Lernwille ausgeprägt.
Mit einer Einführung in die deutsche Sprache wurden die Jugendlichen jedenfalls mit den für die Türken so wichtigen Höflichkeitsformen und praktischen Tips vertraut gemacht. Um eine Überforderung durch die Fülle der neuen Eindrücke zu vermeiden, wurden die landeskundlichen Elemente des Programms gestaffelt: nach der möglichst selbständigen Erkundung der näheren Umgebung und des Stadtteils Friedrichsort folgten eine Wanderung nach Schilksee und eine Fahrt nach Laboe, dann geführte Stadtbesichtigungen in kleinen Gruppen in der Innenstadt Kiels. Erst nach und nach wurden weitere Ziele wie Schleswig, Lübeck oder Hamburg angepeilt. 

3.2. Information und Besichtigung
Die türkischen Pfadfinder kommen aus einer bedeutenden Hafenstadt am Mittelmeer, die allerdings keine Werft hat. Daher standen die Kiel-typischen Betriebe zuerst auf dem Programm. Dort sind auch die meisten deutschen Türken beschäftigt. Bei der MaK in Kiel-Friedrichsort bot sich der Tag der offenen Tür zu einem Besuch an - allerdings unter der sachkundigen Führung eines Mitarbeiters des Jugendprojektes, der bei der MaK beschäftigt ist. Durch die riesigen Werftanlagen der HDW führte ein türkisches Betriebsratmitglied, das im anschließenden Gespräch auch Auskunft über die Arbeitssituation der Türken in Kiel geben konnte.
Die Fahrten zur Erkundung von Geschichte und Gegenwart des Landes Schleswig-Holstein führten zum Völkerkunde-Museum in Haitabu, zu Stadtbesichtigungen in Eckernförde und Plön (mit Schloßbesuch) und nach Hamburg (mit Hafenrundfahrt). In Lütjenburg konnte sich die Gastgruppe beim Tag der offenen Tür ein Bild von der Bundeswehr machen. Eine Fahrt von Sarau aus nach Lübeck konnte mit deutschen Pfadfindern gemeinsam organisiert werden.
Ein Schwerpunkt der Besichtigungen bei den Türkeireisen wurde auf Kirchen und Moscheen gelegt, also auf das religiöse Leben von Muslimen und Christen. Entsprechend bot das Programm in Deutschland Besichtigungen des Hamburger Michels und des Schleswiger Doms. In der St.Markus-Kirche in Kiel-Gaarden informierten sich die türkischen Mädchen und Jungen mit großem Interesse über das Christentum und beim Besuch eines Moschee-Vereins über das kulturelle Leben der Muslime in Kiel. 

3.3. Themen und Gespräche
Auch das inhaltliche Thema orientierte sich an den Fragen, die bei den vorangegangenen Türkeireisen im Vordergrund standen und dort mit den Jugendlichen auch besprochen wurden. Es ging vor allem um die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen in Kiel im Vergleich zur Lage der Jugendlichen in Mersin in der Türkei. Den Schwerpunkt bildete dabei wieder der Kinder- und Jugendschutz mit einem Gespräch mit Herrn Kottenstein, dem Beauftragten für Kinder- und Jugendschutz im Jugendministerium, und Besuchen in Einrichtungen der Jugendarbeit der Kommunen und der Kirche. Da die Problemlage in der Türkei ganz anders ist und Angebote wie Jugendtreffs dort fehlen, ist auch der Kinder- und Jugendschutz in der Türkei kaum gesetzlich geregelt. Er wird praktisch nur durch die Familie und die allgemeine Sozialkontrolle übernommen. Die Unterschiede wurden bei verschiedenen Gesprächen bald deutlich.
Einem Empfang im Rathaus schloß sich ein Gespräch mit der Sozialdezernentin der Stadt Frau Bommelmann, Herrn Diederich vom städtischen Jugendamt und Herrn Woitzik vom Presseamt an. Beim Besuch von Jugendeinrichtungen im Jugendtreff Ellerbek und im Jugendtreff Plön und bei Gesprächen mit dem zuständigen Jugendpfleger bzw. der Jugendpflegerin konnten sich die türkischen Pfadfinder von pädagogischen Angeboten und Freizeitmöglichkeiten überzeugen. Am schwierigsten zu verstehen ist für Jugendliche aus Türkei sicher, wie achtlos oder aggressiv deutsche Jugendliche mit Räumen und Gegenständen umgehen, die ihnen zur Verfügung gestellt werden.
Auch Einrichtungen der Kirche wurden besucht. Gespräche im Jugendpfarramt mit dem Jugendpastor Herrn Pieper und in der St.Markus-Gemeinde mit den Jugendleitern führten zu der für die türkischen Jugendlichen ungewohnten Erkenntnis, daß auch im religiösen Bereich spezielle Sozial-, Kultur- und Bildungsarbeit angeboten wird, die über die engeren religiösen Ziele wie in der Koranschule oder dem Konfirmandenunterricht weit hinausgehen. 

3.4. Aktionen und Begegnung
Im Mittelpunkt des Interesses der Jugendlichen, der türkischen wie der deutschen, stehen Aktionen, die unterhaltsam, spannend und gesellig sind. Bei diesen Aktivitäten gelingt auch grenzüberschreitende Begegnung am leichtesten.
Die Pfadfinder aus Kiel und Sarau boten ein auch in der Türkei pfadfinder-typisches Programm von Orientierungsspielen über gemeinsame Musik mit Gitarren und Sas beim Lagerfeuer bis zum Austausch von Abzeichen.
Obwohl weniger vertraut, wurde ein spezielles Angebot doch gerne angenommen, das zusammen mit "Sport gegen Gewalt" veranstaltet wurde: ein Streetball-Turnier auf dem neuen Platz in Kiel-Gaarden.
Ganz anders, aber ebenfalls gerne angenommen, stellte sich das Programm im dörflichen Sarau dar. Dort gibt es keine offenen Jugendtreffs und Streetballplätze, und die Jugendlichen des Dorfes sind in den bäuerlichen Betrieben mit eingebunden. So wurde regelmäßig vormittags ein Workcamp eingerichtet, bei dem die türkischen Pfadfinder Arbeiten an der Pfadfinderscheune und im Garten des Pastorats, in dem sie zelteten, übernahmen. Für die Gäste stellte das Workcamp sicher auch eine Möglichkeit dar, sich für die Gastfreundschaft und die vielen gemeinsamen Aktivitäten zu bedanken.
Höhepunkte für die Gäste und die einheimischen Jugendlichen waren die Erlebnisfahrten ins Hansaland Sierksdorf, die Ostseetherme Scharbeutz und die Freitagsdiskothek in der Kieler "Traumfabrik". Das gemeinsam gestaltete Kulturfest im Jugendtreff Ellerbek und die Teilnahme am Scheunenfest auf dem Pfingstberg boten bei Musik und Tanz von türkischer Folklore bis zu Breakdance-Einlagen gute Möglichkeiten, um miteinander etwas zu erleben und sich näherzukommen. 

3.5. Besuche bei Familien und in Schulen
Während ein Team von türkischen und deutschen Helfern Zelte, Kochgeschirr, Tische und Bänke und persönliches Gepäck von Falkenstein nach Sarau brachten und dort das neue Lager aufschlugen, hatten die anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen Gelegenheit, deutsche Wohnungen und deutsche Familien kennenzulernen. Trotz der Sprachbarrieren - und jetzt waren keine deutschen Türken für die Übersetzungsarbeit mehr dabei - konnten die türkischen Jugendlichen doch vielfältige Eindrücke gewinnen: von der Einrichtung über die Familie und ihre Größe, vom Essen und Verhaltensweisen bis zur Teilnahme am Alltag. Einige besuchten mit ihren deutschen Freundinnen und Freunden gemeinsam die Schule.
Eigentlich war die Familienbegegnung nur für eine Nacht und einen Tag geplant. Insbesondere diejenigen, die bei deutschen Türken zu Gast waren, baten darum, noch einen Tag länger in Kiel bei ihren Familien bleiben zu dürfen. 

4. Ergebnisse
Die Auswertung im Team und in Gesprächen mit deutschen und türkischen Jugendlichen bringt überraschende Ergebnisse ans Licht, mit denen die Organisatoren nicht unbedingt gerechnet haben. So können die Ergebnisse des Gegenbesuchs in ihrer Vielfalt nur kurz angedeutet werden. 

4.1. Kulturschock
Die Türkei ist ein Land, das kulturell zwischen Abend- und Morgenland, wirtschaftlich, sozial und religiös zwischen ihren westlichen und östlichen Nachbarn angesiedelt ist.
So verhalten sich auch die Jugendlichen: auf den ersten Blick unterscheiden sie sich z.B. von Türken, die in Deutschland aufgewachsen sind, kaum. Dennoch waren sie von der Lebenswelt deutscher Jugendlicher überrascht. Insbesondere der ausgeprägte Lebensstil der Generationen und die damit verbundenen Konflikte brachten eine gewisse Unruhe in die türkische Gruppe. So tauchten Fragen auf: Soll man tatsächlich mit den deutschen Jugendlichen in die Disco gehen (wie es für die Deutschen in der Türkei selbstverständlich war)? Wie verhalten sich die Gruppenleiter, wenn am Strand von Falkenstein Pärchen liegen, die unbekleidet sind? Wie begreift man, daß auf der einen Seite Wege sauber sind und der Verkehr auf den Straßen geregelt ist, auf der anderen Seite Jugendtreffs und der Zeltplatz sich in einem eher erbärmlichen Zustand befinden?
Die vielen neuen Erfahrungen haben für die Gäste sicher so etwas wie einen Kulturschock ausgelöst. Dennoch blieben sie überwiegend selbstsicher, selbstständig und unternehmungslustig.

4.2. Keine Minderwertigkeitskomplexe
Ab einem gewissen sozialen Gefälle zwischen Gästen und Gastgebern könnte man mit Minderwertigkeitsgefühlen der (ärmeren) Gäste rechnen. Diese Erwartung hat sich nicht bestätigt.
Zum einen konnten die türkischen Jugendlichen ihr Geld im (teuren) Deutschland fast besser einteilen als die deutschen Jugendlichen in der (billigen) Türkei. Zum anderen fanden sie sich mit den bescheidenen Verhältnissen auf den Zeltplätzen verhältnismäßig gut ab, obwohl die deutschen Jugendlichen in der Türkei in ihrer Pension geradezu fürstlich bewirtet wurden.
Gerade ein gewisses Maß an Nationalstolz der türkischen Jugendlichen, verbunden mit dem Interesse an der westlichen Welt, der Lebenssituation der deutschen Jugendlichen und höflichen Umgangsformen, machen die Begegnung zwischen deutschen und türkischen Jugendlichen relativ einfach. 

4.3. Information und Erfahrung bei Türken und Deutschen
Beide Seiten haben bei der Begegnung neue Erfahrungen gewonnen:
Die deutschen Gastgeber haben sich als gastfreundlich erwiesen. Das war nach den Erfahrungen im äußerst gastfreundlichen Land Türkei notwendig. Nach der letzten Türkeireise hatten die meisten Mädchen und Jungen in einer Umfrage angegeben, sie würden bei einem Gegenbesuch türkische Jugendliche nach Hause einladen. Die Organisatoren hatten ihre Zweifel, ob dieser Vorsatz bis zum nächsten Sommer halten würde. Viele der Befragten blieben aber bei ihrer Meinung.
Diese Erfahrung, so wie die Türken in der Türkei gastfreundlich sein zu können und Verantwortung zu übernehmen, war bei dem Gegenbesuch wesentlich für die deutschen und deutsch-türkischen Jugendlichen und ihre Familien.
Gleichzeitig haben sie erfahren, daß die ihnen gewohnte Lebenswelt von den Besuchern nicht als selbstverständlich erlebt wird. Das bringt Distanz zu den eigenen Einstellungen und führt dazu, daß die eigene Lage anders - meistens positiver - eingeschätzt wird.
Die Erfahrungen der türkischen Gäste sind nicht so einfach zu erfassen. Sicher scheint, daß ihnen der Aufenthalt in Deutschland gefallen hat - trotz aller Anstrengung und mancher Schwierigkeit bei der Organisation.
Gerade die Älteren würden gerne wieder nach Deutschland kommen, die deutsche Sprache lernen oder Berufspraktika machen.
Insgesamt hat sich eine Erfahrung für beide Seiten vertieft: In der Türkei herrscht gutes Klima, die Landschaft ist schön, die Menschen sind oft sehr aktiv und freundlich.
In Deutschland dagegen herrscht trotz relativ hoher Arbeitslosigkeit noch Wohlstand, es gibt gute Ausbildungsmöglichkeiten und gute Freizeitangebote. Dagegen ist das Klima (gerade in diesem Sommer) nur mäßig angenehm, und die Menschen wirken weniger offen für ihre Mitmenschen.
Die Unterschiede werden zur Kenntnis genommen und zwischen den Jugendlichen auch besprochen. Dabei ist eher eine Abwertung des eigenen Landes zu spüren, und das jeweils fremde Land wird eher positiv erlebt. 

4.4. Ausblick
Gerade die Erfahrung mit den Jugendlichen, die seit 1995 mehrmals am Projekt teilgenommen haben, zeigt, daß Kontinuität und Wiederholung das wirksamste Mittel ist, um der Gefahr zu entgehen, daß durch kurze Eindrücke Vorurteile nur bestärkt werden. Die "Erfahrenen" bei dem Projekt förderten auch das Verständnis derjenigen, die neu dabei waren.
Aus diesem Grund und wegen der Nachfrage aus den unterschiedlichsten Gruppen empfiehlt es sich, das Modell "Grenzen überschreiten" als ständige Einrichtung zur Jugendbegegnung zu etablieren. Das Jugendamt der Stadt Kiel und das Jugendpfarramt des Kieler Ev.-luth. Kirchenkreises haben ihre Mitarbeit und Unterstützung bereits zugesagt.
Allerdings wird es notwendig sein, auch weiterhin um Unterstützung bei verschiedenen Stellen, Institutionen, Verbänden und Firmen zu werben. Denn gerade der Gegenbesuch gestaltet sich organisatorisch und finanziell erheblich schwieriger als eine Reise in die Türkei.
Daß sich der Aufwand für beide Seiten lohnt, hat nach unserer Meinung der erste Besuch türkischer Jugendlicher in Kiel eindrucksvoll unter Beweis gestellt.