UNSER MOTTO : Alman Türk Dostluğu - Deutsch Türkische Freundschaft 

BERICHT über die Begegnungsreise in die Türkei 
vom 8.-17. Oktober 1996 

1. Zusammensetzung der Reisegruppe:

Die Reisegruppe bestand aus 38 Personen, davon 30 Jugendliche. Die Mädchen waren mit gut 1/3 gegenüber den Jungen mit 2/3 in der Minderzahl. Dieses Verhältnis der Geschlechter hatte auch mit den Nationalitäten zu tun: Es hatten sich 7 deutsch-türkische Jungen angemeldet, aber keine Mädchen.
Über die Ursachen wird nachzudenken sein.
Möglicherweise erklärt sich dieser Sachverhalt daraus, daß diesmal - im Gegensatz zur Türkeitour 1995 - keine türkische Begleiterin beteiligt war. Das Team bestand aus dem deutsch-türkischen Organisator der Fahrt, S. Atli vom Progressiven Türkischen Arbeitnehmerverein in Kiel e.V.(PTAV), Erzieher U.Krämer vom städtischen Jugendtreff Ellerbek, Pastor Th. Lienau-Becker aus der Ev.-luth. Michaelis-Gemeinde, dem Ehepaar G. und Th. Zenk von den Christlichen Pfadfindern in Pries-Friedrichsort, das auch ihren 10-jährigen Jungen mitgenommen hatte, dem Pfadfinderleiter K.Lemke und mir als Ev.-luth. Pastor der St.Markus-Gemeinde und Ausländerbeauftragtem des Kirchenkreises.
Außerdem war die Seniorin E.Mause mitgekommen, die schon beim Gegenbesuch der Türkischen Pfadfinder aus Mersin in Kiel dem Projekt hilfreich zur Seite gestanden hatte.

2. Leitungsstruktur:

Aus den Erfahrungen des letzten Jahres wurden Konsequenzen gezogen. Jedem Teammitglied wurde eine Gruppe von Jugendlichen zugeordnet, und an jedem Abend fand eine ausführliche Teambesprechung auf dem Programm.
Dieses Konzept hat sich bewährt: Die Jugendlichen waren über das Programm besser informiert, sie konnten sich mit Vorschlägen aktiv an der Programmgestaltung beteiligen, und sie wendeten sich auch mit ihren Sorgen und Konflikten oder kleinen Verletzungen an ihre zuständigen Betreuer. Diese wiederum waren entlastet wegen ihres überschaubaren Verantwortungsbereichs und der klaren Aufgabenverteilung.

3. Das Programm und seine Veränderungen:

Das Programm vom letzten Jahr hatte sich bewährt und wurde im Wesentlichen übernommen.
Wo die Erfahrung Defizite aufwies, wurde es ergänzt: z.B. durch die Einführung in die türkische Sprache.
Der Themenschwerpunkt wurde vom Thema "Vorurteile", das in der Vorbereitung schon bearbeitet worden war, verschoben zu landeskundlichen Fragen. Das Interesse daran war größer als erwartet.

So ergab sich folgendes Programm:

1. und 2. Tag:
Die Gruppe reiste mit Öger-Tours von Hamburg nach Istanbul, von dort über Ankara nach Mersin und dem Zielort Kiz Kalesi. In Ankara fand ein Gespräch mit der dortigen Pfadfinder-Förderation statt.

3. Tag:
Der 1. Tag in Kiz Kalesi diente der Erholung von der langen Fahrt, dem gegenseitigen Kennenlernen der Gruppenmitglieder und des Teams der türkischen Pfadfinder, das uns während des Aufenthaltes durchgängig begleiten und unterstützen sollte.
Erstmalig wurde eine Einführung in Redewendungen und Aufbau der türkischen Sprache gegeben.

4. Tag:

Wegen heftiger Gewitter stellten wir das Programm um. An diesem Tag lernten die Jugendlichen Mersin kennen und trafen türkische Pfadfinder, die sie bereits im letzten Jahr oder beim Gegenbesuch in Deutschland kennengelernt hatten.
Diese Programmumstellung wurde sehr positiv aufgenommen: die über die Gesamtzeit verteilten Besuche der lebhaften Hafenstadt, die exemplarisch das dortige Leben zwischen orientalischen und abendländischen Traditionen und Moderne vorführt, ermöglichten eine bessere Verarbeitung der Erlebnisse und Erfahrungen und erhöhten das Interesse an speziellen Programmpunkten (siehe 6., 7. und 10. Tag).

5. Tag:
Die Tageswanderung zu den Höhlen Cennet und Cehennem boten neben überwältigenden Eindrücken und dem Abenteuer des Abstiegs Informationsmöglichkeiten über die Wasserversorgung der Gegend, das Leben auf dem Land und die christliche Vergangenheit im Herkunftsland des Apostels Paulus.

6. Tag:
Gemeinsam mit der Gruppe türkischer Pfadfinder aus Mersin wurde die historische Mädchenburg erkundet. In Absprache mit den Teilnehmer/-innen wurde auf die Fahrt in das historische Olbia/Diokaisareia verzichtet. Statt dessen fuhren wir mit den Gästen nach Mersin und besuchten ein Heavy-Metall-Konzert türkischer Rockgruppen gegen Aids. Dieses Erlebnis wirkte sich auch auf die Fragestellungen aus, die abends in Gruppen zur Vorbereitung eines Gesprächs (siehe 8. Tag) erarbeitet wurden.

7. Tag:
Ein weiterer Besuch in Mersin ermöglichte ausführliche Besichtigungen und Gespräche in der arabisch-orthodoxen Kirche und in der größten Moschee sowie Besuche bei Familien der Pfadfinder in Mersin.

8. Tag:
Bei inzwischen wieder stabilem, freundlichen Wetter wurde die Bootsfahrt zu nahegelegenen Buchten mit kalten Süßwasser-Quellen am Grund des Meeresbodens und zur Erkundung von Unterwasserhöhlen nachgeholt.
Am späten Nachmittag fand - gemeinsam mit türkischen Pfadfindern - das am Sonntag abend vorbereitete Gespräch zur Lebenssituation Jugendlicher in der Türkei mit einem Arzt vom Gesundheitsamt (Drogen, Aids, Aufklärung) und einem Rechtsanwalt (Jugendstrafrecht, Kinder- und Jugendschutz) statt. Obwohl der zuständige Mitarbeiter des Jugendamtes kurzfristig abgesagt hatte, gab es eine Fülle von Informationen und eine Diskussion über das Lebensgefühl und die Verhaltensweisen der Jugendlichen in der Türkei, die die Veränderungen der Kultur besonders intensiv und spannungsreich erleben.

9. Tag:
Am letzten vollständigen Programmtag wurden Interessensgruppen angeboten:
- Halbtageswanderung durch römische Ruinenfelder bis zur steilen Kletterpartie hinunter zu einer Nekropole;
- Fahrt nach Silifke, einer dörflich anmutenden Kreisstadt mit historischem Gewicht und Baudenkmälern; Informationen über die Kreuzzüge und den Tod des Kaisers Barbarossa;
- Besichtigung der Landburg in Kiz Kalesi.
Am Abend fand eine Schlußrunde mit Rückblick auf die Tour statt, die Möglichkeiten zu Lob und Kritik an der Organisation, dem Programm, der Zusammenarbeit und der Begegnung bot. Anschließend wurde der Abschied feierlich begangen.

10. Tag:
Glücklicherweise startete der Rückflug von Adana aus erst am Nachmittag.
So konnte für einen neuen Programmpunkt ein Zwischenstop in Mersin eingelegt werden: die Besichtigung eines riesigen Wohnkomplexes, deren Eigentumswohnungen und Gemeinschaftseinrichtungen wie Gärten und Schwimmingpool von einer Kooperative erbaut wurde. Neben dem Besuch einer der Wohnungen gab es Informationen über die dort üblichen Kooperativen zum Bau von (Zweit-)wohnungen, über die Mobilität des türkischen Mittelstandes mit Winter- und Sommerarbeit bzw. -Wohnsitz und Gespräche über Armut und Wohlstand im "Schwellenland" Türkei.

4. Schlußbetrachtung:

a) Begegnungsreise mit Vor- und Nachbereitung:
Die Erfahrungen des ersten Projektdurchlaufs haben sich vertieft. Eine Begegnungsreise mit intensiver Vor- und Nachbereitung unterscheidet sich grundlegend von einem touristischen Urlaub. Sie ist dazu geeignet, das Zusammentreffen deutscher und deutsch-türkischer Kultur in Deutschland verstehbar zu machen und so das Zusammenleben in Kiel zu verbessern. Die Erkenntnisse und Informationen über Geschichte, Politik, (Jugend-)Kultur und Wirtschaft in der Türkei füllen entscheidende Lücken auf, die das durch schulischen oder kirchlichen Unterricht bzw. durch die Medien vermittelte Wissen hinterläßt.

b) Gegenbesuch türkischer Pfadfinder in Kiel:
Der 3-wöchige Gegenbesuch hat nicht nur die intensiven Kontakte der Jugendlichen untereinander gefördert, sondern erstmalig eine - dem Tourismusstrom entgegengesetzte, der Migrationsrichtung aber entsprechende - Begegnung ermöglicht. Es wird zu fragen sein, wie in Zukunft die intensiven Erfahrungen der Türken in Kiel gemeinsam aufgearbeitet werden können - in Deutschland und in der Türkei.

c) Zweitbesuch:
Einige Jugendliche waren zum zweiten Mal mit in der Türkei. Bei ihnen fiel auf, daß sie
- sich viel offener und gelassener auf die Begegnung einließen
- keinerlei Langeweile empfanden
- viel intensivere persönliche Kontakte entwickelten und
- erhebliches Interesse für die Sprache und die Landeskunde mitbrachten.
Die deutschen Türken, die zum zweiten Mal mitfuhren, waren freier und weniger an türkische Verhaltensweisen angepaßt. Dadurch waren sie aber auch weniger auf ihre Vermittlungsrolle zwischen den Kulturen angewiesen und standen nicht im vorher erlebten Ausmaß zur Orientierungshilfe und Übersetzung zur Verfügung. Für sie selbst allerdings scheint ein wichtiger Schritt zum Verständnis der beiden unterschiedlichen Lebenswelten in Deutschland und der Türkei vollzogen zu sein.

d) Neue Realitäten:
"Durch interkulturelle Begegnungen wird eine neue Alltagswelt mit neuen Thematiken geschaffen, die mit den herkömmlichen Alltagstheorien nicht mehr erfaßt bzw. bewältigt werden können."* Die ursprüngliche Annahme, Menschen unterschiedlicher Kulturen könnten sich gegenseitig besuchen und seien hinterher - ohne Veränderung der eigenen Lebenswelt - um eine Lernerfahrung reicher, hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil: konkrete Beziehungen und Pläne zur weiteren Lebensgestaltung verändern die eigenen Verhaltensweisen und damit die eigene Kultur. Über dieses - durchaus wünschenswerte - Phänomen wird nachzudenken sein.

* Petra Sternecker und Werner Treuheit in: Interkulturelles Lernen in Theorie und Praxis, hg. v. H. Otten und W. Treuheit, Leske und Budrich 1994 - Seite 41

5. Zukunftspläne:

a) Nacharbeit:
Die Auswertung durch das Betreuer-Team hat bereits begonnen. Für Ende November ist ein Nachtreffen aller Teilnehmer/-innen geplant.

b) Weiterarbeit:
Das Projekt "Grenzen überschreiten" hat sich in allen wesentlichen Punkten bewährt. Es sollte als ständige Einrichtung für interkulturelle Begegnung in Kiel und in der Türkei institutionalisiert werden. Dazu erhoffen sich die Initiatoren die regelmäßige Mitarbeit des Jugendamtes und des Jugendpfarramtes.
Die für diesen Herbst geplante Gründung eines Deutsch-Türkischen Fachausschusses, die Förderung von Jugendbegegnungsprojekten mit der Türkei und das vielfältige Interesse von Verbänden, pädagogischen Einrichtungen und der Universität Kiel (z.B. Volkskunde und Orientalistik) läßt hoffen, daß die Zukunftspläne sich verwirklichen lassen und für eine gewaltpräventive Arbeit zur Förderung des friedlichen Zusammenlebens in der Migrationsstadt Kiel fruchtbar werden können.

c) Ausweitung:
Nachdem inzwischen Pfadfinder aus dem Kreis Plön und eine Schülergruppe aus Rostock mit unserer Unterstützung ähnliche Projekte durchgeführt haben, gibt es heute vielfältiges Interesse an dieser Arbeit. Konkret planen sowohl Christliche Pfadfinder aus Kiel (VCP) als auch Pfadfinder aus dem Kreis Plön Begegnungsfahrten, bei denen auch die Unterstützung der Türkischen Pfadfinderförderation erwartet werden kann. Es gibt weitere Interessenten. So werden auch in der Türkei weitere Kreise gezogen und Jugendliche aus anderen Städten beteiligt werden müssen.
So ist zu hoffen, daß die Klippen aktiver Begegnungsarbeit - geringe Breitenwirkung, hohe Anforderungen an Veranstalter, Betreuer/-innen und Teilnehmer/-innen, hoher finanzieller Aufwand mit Hilfe vieler Beteiligter überwunden werden können.